Neu-Entscheiden. Oder: Die kleine Bereitwilligkeit
Im ersten Teil dieser Reihe haben wir über den inneren Februar gesprochen, also Zustände des emotionalen Schmerzes, die im Leben immer mal wieder auftreten. Darüber hinaus haben wir die dunkle und kontrastreiche Brille kennengelernt, die wir häufig dazu noch aufsetzen oder einfach auf unserer Nase vorfinden, als wäre sie immer da gewesen. Diese Brille symbolisiert unser Urteilen und diese bedeuten wiederum immer Widerstand: Widerstand gegen Gefühle, Situationen, uns selbst, dem Hier-und-Jetzt in seiner rohen Vollständigkeit.
Mit jedem Urteil schießen wir uns zusätzlich zu dem Schmerz einer Situation oder Emotion noch den Pfeil des Widerstands in unser eigenes Fleisch und Leid entsteht.
Das geht oft so schnell, dass wir es gar nicht bemerken. Der Raum zwischen Reiz (also einem schmerzhaften Gefühl) und Reaktion (dem Urteil darüber) erscheint minimal oder sogar gar nicht vorhanden. Wir tragen die dunkle Brille meistens unhinterfragt und halten unsere Urteile und Bewertungen für die Wahrheit.
Nicht die Situation an sich, sondern das, was wir eine Situation bedeuten lassen, wird zu unserer Realität.
Wir haben nun (mindestens) zwei Möglichkeiten, Leid aufzulösen.
- Wie in Teil 1 dargelegt: Wir können uns gänzlich freimachen von allen Brillen, allen Bewertungen und Urteilen. Schicht um Schicht entledigen wir uns so von sämtlichen Illusionen, die uns von der Erkenntnis unseres wahren Selbst als reines und unberührtes Gewahrsein trennen. Im absoluten Sinne kommen wir so bei der Transzendenz des „Ich“ an. Im spirituellen Sinne sind wir dann erwacht, weil uns in letzter Konsequenz klar wird, dass auch die Identifikation mit einem „Ich“ eine Brille (und somit eine Bewertung und eine Trennung) ist, die wir absetzen können. Dies wirklich zu fühlen und nicht beim philosophischen Konzept stehenzubleiben, führt zu tiefgehendem Frieden und einem Gefühl absoluter Freiheit. Meditationen auf das „ich bin“ (z.B. wie ich sie in dieser Podcast Episode angeleitet habe) sind eine von vielen Methoden, sich auf diesen Weg zu begeben.
- Wir können die dunkle Brille durch eine Buntere ersetzen. Doch das ist gar nicht so leicht, wie es klingt. Manchmal haben wir zwar noch andere Brillen im Repertoire, wissen jedoch nicht, wie wir sie wechseln können und damit unsere Bewertung von Situationen verändern.
Auf die zweite Möglichkeit möchte ich heute schauen. Lass uns ins Handeln kommen und die Brille wechseln.
Wie kann das gehen?
Kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlen könnte, urteilenden Gedanken den Energiefluss (deine Aufmerksamkeit) zu entziehen und stattdessen Gedanken des Mitgefühls und des Verständnis zu denken?
Wenn sich deine Bewertung der Situation verändert hat, welches Handeln ist dann möglich?
Bist du bereit, deine Brille zu ersetzen?
Stellen wir uns diese Fragen inmitten eines kalten, inneren Februars, sind wir häufig mit einer Blockade konfrontiert. Diese fühlt sich schnell an wie „ich kann nicht“. Ich behaupte jedoch: Irgendetwas in uns will nicht, dass es anders ist. Selbst das Statement, es könne überhaupt neu gewählt werden, löst oft einen inneren Konflikt aus. Und dabei würde doch jede*r auf die Frage „willst du dich besser fühlen?“ mit „ja“ antworten.
Oder?
Doch was hält dich genau davon ab, dich vom Urteil (also der dunklen Brille) zu lösen und anders zu reagieren? Was hindert dich, anders zu handeln?
Häufig sind wir mit unseren Urteilen über unseren Schmerz (den es, wie Buddha schon sagte, im Leben wirklich immer geben wird. Wie ich finde eine sehr ernüchternde Feststellung) verstrickt und identifiziert. Wir haben Schwierigkeiten, alternative Gedanken oder eben Stille in uns wirklich nachhaltig zu kultivieren.
Ich stelle in solchen Vorhaben oft fest, dass ich andere, vom alten Muster abweichende Gedanken (so etwas wie: „ja, das tut gerade weh und das ist okay. Ich bin okay. Ich bin sicher und unermesslich wertvoll und ich möchte gerade jetzt besonders liebevoll mit mir sein“) oft einfach gar nicht zu Ende denken kann. Stattdessen rutsche ich von diesen ungewohnten Trampelpfaden immer wieder auf die eingefahrenen Autobahnen in meinem Geist ab, auf denen abwertende Urteilen über mich und meine Lebenssituation in rasender Geschwindigkeit durch mein System brettern. Es ist eben so vertraut, so eingeübt. Und weil wir es schon mit so zähen Gedanken über uns selbst und die Welt zu tun haben, ist eine Verhaltensänderung häufig mit ebenso viel Widerstand verbunden. Es löst geradezu Angst aus, neue Wege des Denkens und Handelns zu gehen, weil unser System immer nach dem Bequemen, nach dem Gewohnten strebt. Alles, was darüber hinaus oder hinweg geht, kann Unbehagen auslösen.
»Wir säen einen Gedanken und ernten eine Tat; wir säen eine Tat und ernten eine Gewohnheit; wir säen eine Gewohnheit und ernten einen Charakter; wir säen einen Charakter und ernten ein Schicksal.«. (Charles Reade)
Wie wir uns verhalten, wenn wir gewohnte, negative Gedanken über uns glauben, hat uns einst geschützt und erfüllt bis heute Funktionen in unserem Leben, für die wir noch keine Alternative eingeübt haben. Diese festgefahrenen Muster sind also nicht überflüssig für unser System. Sie erfüllen uns Bedürfnisse, von denen wir vielleicht nicht einmal wissen, dass wir sie haben und somit auch gar anders erfüllen können. Wir profitieren von unseren Mustern, mehr oder weniger gesund.
Das Wechseln der Brille dient unseren Beziehungen
Ich möchte ein Beispiel aus dem Lebensbereich Beziehung geben. Hier werden wir besonders häufig mit schmerzhaften Urteilen konfrontiert.
Also nehmen wir mal an: Ich erlebe eine Grenzüberschreitung. In mir entsteht daraufhin das Gefühl von Wut. Mein wertendes Urteil durch meine dunkle Brille ist: „Ich werde bedroht, bin nicht sicher, der Andere will mich bevormunden.“ Dieses Urteil in Kombination mit der Wut-Energie ist verknüpft mit einem eingeübten Verhalten, das wie eine Kompensation erscheint: z.B. beleidigter Rückzug. Dieses Verhalten hat die Funktion, das Bedürfnis nach Schutz und Autonomie zu erfüllen. Im Rückzug erfahre ich das das Resultat von Ruhe und Abstand, habe mich immerhin räumlich abgegrenzt und vermeide weitere potenzielle Überforderung.
Bedürfnisse, die hinter Verhalten stecken, sind nicht immer intuitiv oder rational erklärbar. Von außen kann ich nicht erkennen, welches Bedürfnis hinter einem bestimmten Verhalten steckt, auch wenn das schön wäre, denn so wären Beziehungen viel weniger komplex. Hinter einem beleidigten Rückzug kann auch das Bedürfnis nach Nähe stecken, denn eine weitere, oft unbewusste Funktion kann auch sein, dass andere sich durch ein solches Verhalten erst recht um mich bemühen. Etwa, weil sie sich Sorgen machen oder ein schlechtes Gewissen haben und daraufhin auf mich zukommen.
Kurzum: Wir leiden unter Urteilen und entsprechenden Handlungsweisen, die auf ihnen basieren. Doch wir gewinnen auch immer etwas durch sie. Da wir keine Alternativen kennen oder eingeübt haben, wiederholt sich das Altbekannte und verfestigt sich.
Neu-Entscheiden ist vielleicht genau dieses Loslassen, von dem immer alle reden.
Über die kleine Bereitwilligkeit.
Wollen wir denn wirklich loslassen? Sind wir uns darüber im Klaren, dass das Loslassen in letzter Konsequenz das Einüben und Etablieren neuer Gedanken und Verhaltensweisen erforderlich macht?Wissen wir, was für „Vorteile“ wir loslassen, wenn wir etwas scheinbar Negatives durch etwas Gesünderes ersetzen? Gibt es etwas, das wir noch behalten wollen?
Sind wir bereit, der Mensch zu sein, der etwas anderes über sich und die Welt glaubt? Wollen wir die Konsequenzen tragen, die wohlwollende Gedanken über uns und die Welt mit sich bringen?
Wenn wir uns hiermit auseinandergesetzt haben (und das werden wir immer und immer wieder aktualisieren), kann wirkliche Transformation stattfinden.
Es führt kein Weg daran vorbei, unsere Bedürfnisse kennenzulernen, die hinter jeder Emotion, hinter jedem eingefahrenen Glaubenssatz und entsprechender Verhaltensmuster stecken. Zumindest, wenn wir etwas ändern wollen.
Das ist müßig, anstrengend und kann auch richtig schmerzhaft sein. Doch es lohnt sich. Und wir werden immer besser darin, unsere Bedürfnisse wertzuschätzen und sie auf eine Art und Weise zu erfüllen, die uns und anderen bzw. unseren Beziehungen nicht schadet.
Wie können wir, gemäß dem Beispiel, nötige Abgrenzung schaffen, ohne den Glaubenssatz „ich werde bedroht“ zu rekonstruieren, unter dem wir so leiden?
Diese Transformation kann folgendermaßen aussehen:
Die Prämisse: ich möchte etwas ändern, weil meine Beziehungspartner*in das Gefühl hat, dass ich aufgrund des Rückzugs emotional nicht verfügbar bin und unsere Kommunikation und Verbindung stark unter meiner Reaktion (also dem beleidigten Rückzug) leidet. Es gibt also die kleine Bereitwilligkeit. Weil mir die Beziehung wichtig ist, mache ich mir in einem ruhigen Moment die Funktion meines inneren Urteils und meiner Glaubenssätze bewusst und schaue mir an, was davon ich abgeben und was ich behalten will. Ich stelle fest, dass mir Abstand wichtig ist, um zur Ruhe zu kommen. Mein Bedürfnis nach Autonomie und Schutz wird mir in diesem Zuge auch bewusst. Gleichzeitig möchte ich jedoch nicht in den Verbindungsabbruch gehen und stattdessen liebevoll kommunizieren, dass mir etwas zu viel ist und ich etwas Zeit für mich brauche. Bei der nächsten Grenzüberschreitung, die ich wahrnehme, spüre ich wieder Wut in mir. Ich nehme die Wut jedoch erst einmal neutral, ohne Wertung und ohne Widerstand zur Kenntnis. Ich erweitere damit den Raum zwischen Reiz und Reaktion. Das Urteil wird nicht aktiviert und der negative Glaubenssatz entfaltet nicht seine Wirkung, es entsteht kein Leid. Es wird weit in mir, statt eng. Ich wähle neu: statt mich zurückzuziehen, bringe ich das Gefühl der Wut in Kontakt, weil ich es ja auch selbst nicht mehr verurteile. Ich benenne mein Gefühl der Wut, zeige meine Grenze auf und bitte um Freiraum. Dazu gehört es nun auch, eventuelle Gefühle von Irritation beim Anderen zu lassen und nicht zu sich zu nehmen und auflösen zu wollen.
Noch ein paar Worte zu Beziehungsdynamiken:
Das Nicht-Urteilen bzw. Annehmen meiner eigenen Wut oder meines Widerstands führt meist schon dazu, dass mein*e Partner*in entweder anders auf mich reagiert und/oder die Reaktion meines Gegenübers weniger Unruhe in mir auslöst. Ich bleibe so bei mir. Das schließt Mitgefühl jedoch nicht aus. Um Verstrickung zu vermeiden, darf ich vertrauen, dass der Andere seine Bedürfnisse ebenso in Kontakt bringen kann und wir gemeinsam verbindende Lösungen finden können. Damit gestehe ich nicht nur mir selbst, sondern auch dem Anderen (die Verantwortung für) die eigenen Gefühle zu und wahre gleichzeitig Grenzen. Oft erfordert dieser Prozess viel Geduld. Nicht alle Menschen gehen hier das gleiche Tempo oder sind an einem ähnlichen Punkt oder einer einstimmigen Kommunikationsebene.
Du trägst die Verantwortung für deine Gefühle und deine Urteile/Widerstände, sowie für dein Handeln. Du trägst somit einen Teil der Verantwortung für das, was innerhalb eurer Beziehung geschieht, weil du Teil dieses gemeinsamen Raums bist. Wofür du keine Verantwortung trägst, sind die Gefühle des Anderen, seine Urteile/Widerstände und sein Handeln. Es kann nur getriggert werden, was schon vorher da war. Hierzu gehe ich in einem weiteren Blogpost noch in die Tiefe.
Zusammenfassung:
Was hier passiert ist, ist nicht nur das Loslassen von Urteilen und somit Leid. Es ist das Exempel für die Wirksamkeit von Eigenverantwortung. Was ich nicht festhalte oder wegdrücke, kann sich organisch entwickeln und fließen. Ohne die Anstrengung des Urteilens, Kämpfens und Vermeidens wird mein Blick klarer und die Fähigkeit zur Neu-Entscheidung (auch, was zwischenmenschliche Kommunikation angeht) gestärkt. Der Muskel zum Wechsel oder zur Erweiterung von Perspektiven muss natürlich erst trainiert werden. Das erfordert tatsächlich Disziplin, wie der regelmäßige Gang ins Fitnessstudio. Wenn wir uns immer und immer wieder überwinden, spüren wir, dass sich etwas verändert: Irgendwann fühlt sich der Effekt des Trainings so gut an, dass es nicht mehr wegzudenken ist. Wir wollen nicht mehr auf die Vorzüge verzichten, die uns der neue Lebensstil einbringt, denn wir werden spürbar stärker, selbstsicherer und experimentierfreudiger. Gleiches gilt auch für die Geistesschulung. Es lohnt sich, regelmäßig unseren inneren Schweinehund zu überwinden und zu üben.
Zugegeben: sowohl das Absetzen oder Ersetzen der Brille macht einen inneren Februar nicht automatisch zum August. Doch es kann ermöglichen, dass wir nicht (so stark) unter schmerzhaften Gefühlen leiden. Alles beginnt mit dieser kleinen Bereitwilligkeit. Mit der Entscheidung, dass es auch anders gehen darf. Dass es vielleicht auch leicht sein darf.
Dabei können wir uns unterstützen lassen, zum Beispiel durch Coaching (*wink*). Bitte vergiss nicht: Dieser Prozess ist ein Training. Es wird nicht sofort leicht und wohlig, aber wie am ersten Frühlingstag nach einem langen Winter fühlt sich die Wärme irgendwann wieder vertraut an. Und nach uns nach dürfen wir mit Staunen betrachten, wie sich die Ergebnisse von Neu-Entscheiden auf unsere Beziehungen und unser Innenleben auswirken.
Wie wäre es, wenn du dir heute erlaubst, einen Moment innezuhalten, bevor du reagierst?
Was könntest du jetzt in diesem Raum neu wählen?
Du hast die Wahl: Welche Brille willst du aufsetzen?
Was verändert sich – im Hier und Jetzt?

Im nächsten Teil möchte ich mich mit dem Thema Produktives Selbstmitgefühl beschäftigen und wie wir dies im Alltag verankern können. Es wird also noch praktischer!
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