Die Branche der Selbsthilfe, Persönlichkeitsentwicklung, Coaching und Beratung ist ein riesiger Markt. Der Umfang an Angeboten wie Büchern, Youtube Videos, Podcasts, Coachingprogrammen, Blogs und Foren haben in ihrem Umfang in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen und erfahren einen enormen Zuspruch.

Wir suchen und suchen- in der individualistischen Welt in der wir leben, funktioniert die Narrative der Eigenverantwortung hervorragend. Dir fehlt immer etwas, das siehst du ja schon, wenn du Instagram öffnest.  Was dir fehlt, ist dir aber meist nicht komplett unzugänglich, denn andere haben es ja auch „von unten“ geschafft, durch viel harte Arbeit und vielleicht Disziplin, die Veränderung ihres Mindsets oder besonders beliebt (abseits von zwielichtigen „Coachings“ in Network-Marketing-Gruppen): durch Manifestation: tu einfach so, als sei dein Objekt der Begierde schon deines, fühl da rein, sei auf der Frequenz von Fülle und Dankbarkeit und dann ziehst du das Gewünschte auch in dein Leben. Funktioniert nicht? Der Traumpartner, das Haus, der Job, der Geldfluss sind noch nicht da? Dann arbeite an dir. Wahrscheinlich hast du noch nicht genug getan, verstanden, verinnerlicht von dem, was dir auf dem riesigen Basar des Selbsthilfe-Marktes angeboten wurde. Schau noch ein weiteres Video, bleib suchend, sei noch ein bisschen mehr „delulu“ (von delusional, also auf deutsch „getäuscht, wahnhaft“), kauf ein Buch, einen Kurs, ein Coaching. Versuchs ansonsten doch mal mit Zauberei. Hauptsache, du konsumierst. Hauptsache, du veränderst dich durch Arbeit an dir selbst und wirst zu einer besseren, optimierten und sozialverträglicheren Version deiner selbst. Schließlich hast du die Verantwortung. Toll, nicht wahr?

Ja, das ist toll. Ich stimme dieser Aussage über die eigene Verantwortung sogar in großen Teilen zu. Mir geht es hier nicht darum, die Selbsthilfe-Szene zu diskreditieren.

Mir ist klar, wie stark die Kraft von Visualisierung, Dankbarkeit, Glaubenssatzarbeit sein kann und ich finde es super, dass es solche Angebote gibt.

Was ich kritisch finde, ist folgende Dynamik: Es entsteht ein Druck, ständig noch etwas neues „lernen“ zu müssen, weil immer suggeriert wird, man sei noch nicht „fertig“. Wie das suggeriert wird? Indem immer mehr angeboten wird und jedes Angebot, sei es Buch, Video, Podcast, Coaching-Programm natürlich von sich behauptet, das fehlende Puzzlestück zu einem endlich glücklichen Leben zu beinhalten. Und das suchen wir alle: das glückliche Leben ohne Schmerz.

Das Problem ist also ein systemisches. Es hat eine enorme Eigendynamik und die Personen, die Content oder Dienstleistungen anbieten, sind nur ein Rädchen im Zahnrad dieses komplexen Systems. Sie als gierig zu diskreditieren, da sie ihre Zielgruppe abhängig halten wollen, indem sie ständig neue Bedarfe „aufdecken“, greift zu kurz.
Ich finde, dass jede Person die Hilfe anbietet oder aufsucht, sich bewusst werden darf über die systemische gegenseitige Abhängigkeit von Hilfebedarf und Hilfeangebot. Es gibt das eine nur mit dem jeweils anderen: Wir Coaches und Berater*innen brauchen Menschen, die Hilfe suchen und gleichzeitig wollen wir nachhaltig dazu beitragen, dass dies nicht mehr nötig ist.

Deine Suche ist unser Kapital. Finanziell und oft auch emotional.

In diesem Kontext muss ich mich ebenso kritisch hinterfragen, denn auch ich biete ja ein Angebot an, bringe Blogeinträge und Podcast heraus, mit denen ich versuche, möglichst viele Menschen zu erreichen und auch mein kostenpflichtiges Beratungsangebot zu bewerben. Ich stelle mir immer wieder die Frage: Dient mein Output dazu, dass Personen mich mehr oder eher weniger brauchen, nachdem sie etwas von mir gelesen/gehört haben oder zu einer Beratung gekommen sind? Ich strebe letzteres an, obwohl dies natürlich auch Einbußen bedeutet, wenn man die Konsequenzen zu Ende denkt: es kann passieren, dass du als Klient*in nicht (wieder) zu mir kommst, sobald du verinnerlicht hast, dass alles schon in dir ist. Und kleiner Tipp: dafür musst du gar nichts mehr tun. Oder kaufen. Oder konsumieren.

Und trotzdem: Auch ich verdiene mit Beratung und Coaching Geld und habe somit ein Interesse daran, dass Menschen sich unzufrieden, „unfertig“, suchend und verbesserungswürdig fühlen und ihre Suche sie zu mir führt. Gleichzeitig bin ich, wie viele andere Berater*innen und Coaches, von der Selbstwirksamkeit meiner Klient*innen überzeugt und davon, dass sie selbst die Verantwortung für ihr Leben tragen und mich eben eigentlich gar nicht wirklich brauchen. Und hier haben wir den Zirkelschluss: So altruistisch die Motive von Coaches und Beratern und auch anderen helfenden Berufen so sein mögen, so sehr wir den Bedarf an Hilfe und Unterstützung durch unsere Arbeit auch senken wollen… wir sind auch von der Existenz eben jenes Bedarfs angewiesen.

So viel zur strukturellen Dimension der professionellen Symbiose zwischen Berater*in und Klient*in (so viele Fachbegriffe in einem Satz,…ich hoffe, ihr seid noch bei mir!)

Eine weitere Dimension betrifft die emotionale Komponente: Abhängig von ihren Klient*innen machen sich viele beratende Personen nicht nur finanziell, sondern auch emotional. Wenn Selbstwirksamkeit und Selbstwertgefühl vor allem daran gekoppelt ist, dass wir hilfreich für andere sind, entsteht eine Abhängigkeit, die im extremsten Fall zu Grenzüberschreitung und Verstrickung führt. Dann ist es nicht mehr nur wichtig, mit dem Coaching Geld zu verdienen, sondern wir brauchen auch die positive Rückmeldung unserer Zielgruppe. Wir wollen „gute Coaches“ sein, damit wir uns wichtig und wertvoll fühlen dürfen. Viele Coaches haben ein sehr ausgeprägtes Helfersyndrom und vermitteln ihren Klient*innen indirekt, dass ihr Selbstwertgefühl von einer „erfolgreichen“ Sitzung abhängt. Von Lob und Anerkennung. Von Bestätigung dafür, hilfreich und gut gewesen zu sein. Ein subtiler Druck für beide Parteien ist die Konsequenz.

Das Dilemma liegt auf der Hand. Was machen wir jetzt damit?

Ich habe nicht die Lösung, nur einige Vorschläge, die ich in diesem Kontext gerne unterbreiten möchte.

Beide Parteien sollten zunächst über diese Wechselseitige Abhängigkeit Bescheid wissen. Mit dieser Ausgangsposition kann dann bewusst eine Symbiose eingegangen werden. Das heißt:

  • Für Anbieter*innen: Bewusst arbeiten. Wir sollten Coaching und Beratung nur dann anbieten, wenn wir selbst (auch) andere Quellen für einen positiven Selbstwert haben. Wenn unser Wohlergehen nicht davon abhängt, dass wir am Ende einer Sitzung toll und hilfreich empfunden wurden (bzw. die entsprechende Rückmeldung erhalten), können wir erst wirklich gut arbeiten. Was nicht heißt, dass es uns nicht auch freuen darf, wenn positives Feedback oder eine Folgebuchung kommt.
    Und trotzdem: eine Person, die nicht wiederkommt, ist vielleicht eine Person der diese Sitzung gereicht hat, um zu erkennen, was sie wert ist, was sie braucht und wie sie vorgehen kann. Frage dich: kannst du dich darüber genauso freuen, wenn du nicht mehr gebraucht wirst?
    Darüber hinaus: Supervision wahrnehmen! Hier können solche Selbstwert Themen (die wir alle haben, behaupte ich mal ganz tollkühn) angegangen werden.
  • Für Konsument*innen: bewusst konsumieren. Es ist toll, dass du (ganz plakativ gesprochen) nach einem glücklicheren Leben strebst. Dass du bereit bist, dafür Verantwortung zu übernehmen, verdient Respekt. Nur manchmal kann das ganze in eine Selbstoptimierungsspirale führen. Frage dich: Brauchst du wirklich dieses weitere Buch, dieses weitere Video oder Reel über Persönlichkeitsentwicklung oder Heilung? Frage dich: wie wäre es, wenn du bereits nicht nur okay sondern sogar vollkommen wärst- genauso wie du jetzt bist? Würdest du dann immer noch im selben Umfang diese Inhalte studieren?
    Beobachte dein Konsumverhalten. Wie viele Inhalte nimmst du in welcher Zeit in dich auf, wie viel Zeit gibst du dir, die einzelnen Aspekte zu integrieren? Brauchst du ein Coaching oder eine Beratung und mit welchem Ziel?

Coaching, Beratung, Selbsthilfecontent, Persönlichkeitsentwicklung und all ihre Formen können wertvoll sein. Gleichzeitig sind sie ein Markt, der bestimmten Logiken folgt, wie der gegenseitigen Abhängigkeit von Hilfeangebot und -bedarf. Wenn alle Beteiligten diesen Umstand im Blick haben, kann sicherlich einiges an dysfunktionalen Mechanismen (wie der Selbstoptimierungswahn) abgefedert werden.

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  1. Ich habe gerade deinen Artikel gelesen, und finde es toll, auch mal Stimmen gegen den Selbstoptimierungswahn aus dem Bereich der Beratung zu hören! Gerade die Beleuchtung beider Seiten, also Klient und beratende Person, auch im Hinblick auf die emotionale Komponente finde ich sehr spannend und wichtig. Danke für diesen selbstkritischen Einblick! Ich freue mich schon sehr auf die folgenden Blogeinträge!

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